Erkrankungen wie Parkinson oder Alzheimer können künftig deutlich präziser erforscht werden. Das verspricht ein in Deutschland entwickelter Neurochip. Der Chip eröffnet außerdem die Möglichkeit, neurologische und neurodegenerative Erkrankungen zu lindern oder sogar zu heilen. Der nur ein Quadratmillimeter kleine Winzling erbringt diese Leistungen, indem er die Kommunikation zwischen Nervenzellen tausendmal schneller als ein Smartphone-Kamerachip filmt; bis zu 5.000 Elektroden übernehmen das Auslesen der Nervenzellsignale auf dem Chip. Integrierte Transistoren können die Zellen darüber hinaus im Mikrosekundentakt und mit mikrometergenauer Auflösung stimulieren. Die Neuentwicklung ist das Ergebnis eines erfolgreichen Forschungstransfers vom innBW-Mitglied Naturwissenschaftliches und Medizinisches Institut an der Universität Tübingen (NMI) und der Technischen Universität Berlin an das mittelständische Unternehmen Multi Channel Systems MCS. Seit Beginn des Jahres ist der Chip auf dem Markt.
Das Miniaturbauteil ist für Forschungsinstitute und Biotechnologiefirmen entwickelt worden, die an Behandlungsmethoden und Medikamenten gegen die Erkrankungen arbeiten. Die Analysedaten des Chips sollen Auskunft darüber geben, wie Zellverbände oder einzelne Zellen über einen längeren Zeitraum auf elektrische Stimulation oder pharmakologische Substanzen reagieren. Eine Implantation in den Menschen ist derzeit noch nicht möglich.
„Der Neurochip versetzt uns erstmalig in die Lage, einen ‚point of care‘ auf zellulärer Ebene zu implementieren. Der hochaufgelöste Einblick in lebende Nervenzellen eröffnet neue Wege für zahlreiche Anwendungen in der Bioelektronischen Medizin, der Biotechnologie und in der Hirnforschung“, beschreibt Dr. Günther Zeck, Leiter der Forschungsgruppe Neurochip am NMI, den Mehrwert der Entwicklung. Das neue Mess- und Stimulationssystem, dessen bioelektronische Sensorik die TU Berlin entwickelt hat, wird unter dem Namen CMOS-MEA5000 vertrieben.
Gelungener Forschungstransfer
Der Neurochip zeigt, wie Technologietransfer von der Grundlagenforschung über BMBF-geförderte Entwicklungsprojekte bis hin zur marktreifen Produktentwicklung im Idealfall gelingen kann. Der Weg startete vor mehr als einem Jahrzehnt am Max Planck-Institut in Martinsried. Für die anwendungsorientierte Entwicklung wurde das Knowhow an das NMI nach Reutlingen übertragen. Zusammen mit der TU Berlin und der Multi Channel Systems MCS GmbH führte das NMI die weitere Entwicklung bis zur Marktreife durch. Gefördert durch das BMBF entwickelte das Fachgebiet Sensorik und Aktuatorik der TU Berlin zusammen mit Multi Channel Systems das neue Mess- und Stimulationssystem. Das NMI begleitete die Produktentwicklung durch Untersuchungen in der neurophysiologischen Forschung und in der neurotechnischen Mikromedizin.
Das NMI betreibt anwendungsorientierte Forschung an der Schnittstelle von Bio- und Materialwissenschaften. Ein interdisziplinäres Team von Wissenschaftlern erschließt neue Technologien für Unternehmen und öffentliche Forschungsförderer in den Geschäftsfeldern Pharma- und Biotechnologie, Oberflächen- und Werkstofftechnologie sowie Biomedizintechnik. Das Institut mit Sitz in Reutlingen versteht sich als Brücke zwischen Wissenschaft und Wirtschaft: Es arbeitet eng mit Universitäten und anderen Forschungseinrichtungen zusammen und bedient seit vielen Jahren ein großes Spektrum an mittelständischen und großen Unternehmen. Am NMI arbeiten rund 190 Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter. Gegründet wurde es 1985.